FESTINA LENTE

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Festina Lente
für Streichquartett (1990) (Stimmen leihweise)

 

Festina Lente (Eile langsam) ist eine häufig gebrauchte Hieroglyphe der Renaissance, die ihre Anfänge im antiken Rom hat und heute noch in Steinfries-Fragmenten vorzufinden ist; so auch in der Fontane delle Tartarughe wo Jünglinge einen Fuß auf Delphine setzen, während sie mit der Hand Schildkröten über den Kopf in eine Brunnenschale heben: Das Schnelle wird gezügelt, das Langsame erhoben. In der Hypnerotomachia des Poliphilius finden sich zahlreiche Bildhieroglyphen, die die Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Schnellem und Langsamen darstellen: ein um einen Anker gewundener Delphin; eine Schildkröte, die ein Segel trägt; ein Delphin, der an eine Schildkröte gebunden ist; ein Schmetterling auf einem Krebs; ein Falke mit Uhrgewichten im Schnabel; ein Luchs mit verbundenen Augen. Edgar Wind analysiert diese Bilder (in: Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt 1981): “Diese und zahllose andere emblematischen Kombinationen sollten die Lebensregel versinnbildlichen, nach der man durch Ausbildung einer Kraft, in derSchnelligkeit und Beharrlichkeit gleichermaßen entwickelt sind, Reife erlangte. Auch ein Mantegna zugeschriebenes Bild geht mit diesen Emblemen um, setzt sie – in einen Handlungszusammenhang, der sich mit unserem Idiom “die Gelegenheit beim Schopf packen” beschreiben läßt. Dort wird ein Jüngling, der auf einer rollender Kugel balanciert und einer Frau zustrebt, die ihm den Haarschopf hinwendet, von einer hinter ihm auf einem Quader stehenden Frau zurückgehalten. Letztere Patientia (Geduld) versucht den Protagonisten von der ‘Occasio’ (Gelegenheit) abzuhalten, da sie befürchtet, die günstige Gelegenheit zu ergreifen könne in ‘Poenitentia’ (Reue, Rache) umschlagen.”

In der Tat gibt es zahlreiche Abbildungen der Renaissance, auf denen Geduld, Gelegenheit und Reue zusammen erscheinen. Diese drei Begriffe überschreiben die ersten drei Sätze des Streichquartetts, das versucht, das Schnelle mit dem Langsamen auf mehreren Ebenen miteinander zu verbinden. Die erste ist die des Tempos Langsam/ Schnell/Langsam im Nacheinander. Die zweite ist die des Miteinander durch die zur Anwendung kommenden Doppelgrifftechnik, die von der ersten zur letzten Note durchgehalten wird, was das Stück vor sehr schwierige Interpretationsaufgaben stellt. Die Doppelgriffe erzeugen die Intervalle:

Großer Ganzton 9/8 (204 Cent), kleiner Ganzton 10/9 (182 Cent), Großer Halbton 16/15 (112 Cent), kleiner Halbton 25/24 (76 Cent), Quasi Unisono 80/81 (Pythagor. Komma), Unisono 1/1.

Diese Intervalle ermöglichen das paradoxe Ineinandergreifen von Schnell und Langsam:

In dem langsamen ersten Satz Patientia erzeugen die engen Intervalle einen schnellen Puls, den der Interferenzen und Schwebungen. Diese, schnelle lnnenschwingungen bei langsamen Außentempo, erfährt im zweiten Satz Occasio seine Umkehrung. Dort haben über einem schnellen. Außentempo die Unisono-Doppelgriffe, die Innenschwingungen (idealiter) aufgehoben. Dieser Satz hebt auch die zunächst noch zwischen den Instrumenten erzeugten Vierteltonrückungen auf und strebt einem Quartett-Unisono zu, über den in Töne übersetzten Satz: “patientia ornamentum, custodia et protectio vitae est”. Diese Passage bildet den Beginn des dritten Satzes Poenitentia, der den Charakter des ersten Satzes aufgreift, jedoch als fatales Eingeständnis der Unumkehrbarkeit der einmal verlassenen Haltung. Der vierte Satz Regressus in Infinitum ist die anstelle der zugestandenen Unumkehrbarkeit der Zeit tretende Öffnung eines Innenraums, der nirgendwo Halt sucht, aber im Haltlosen neue Fixpunkte findet. Ähnlich dem Zenonschen Paradox von Achill und der Schildkröte teilt sich der Abstand zweier Doppelgriffglissandi im Unisono unaufhörlich. Ein Unisono, das ja keines mehr sein kann, sobald es sich bewegt, seinen Tonort ständig wechselt. Die wenigen Ausbrüche ins Schnelle/Laute finden immer gleich wieder zurück ins Langsame/Leise, dessen Innenräume zunehmend, richtet man nur sein Hören darauf, von einer “unerhörter” Dichte sind. Alle vier Instrumente spielen schließlich ihre Unisono-Doppelgriff-Glissandi im “Unisono”. Eine scheinhafte Einheit im Äußeren öffnet erst eine wirkliche Vielheit im Inneren. Das Unisono findet, obwohl vorgeschrieben nicht statt. Im Gegenteil, der Versuch, es zu erzeugen, erzeugt die sich widerstrebenden Schwingungen und so die klangliche Dichte der Schwebungen. So gestaltet sich der Versuch, das Paradox des Festina lente zum Klingen zu bringen.

Das Hören dieses Stücks braucht dann auch ein Sich-Lösen von der Oberfläche des äußeren Charakters, ja es sollte eine Art Kontrafaktur-Hören versucht werden. Beim Langsamen das Schnelle, beim Schnellen das Langsame herauszuhören. So könnte auch der Hörer sich aktiv in das, für das, gegen das Paradox einsetzen.