DURCHLÄSSIGKEIT IN WERTUNGSWÜTIGER ZEIT – NACHRUF AUF ERHARD GROSSKOPF

https://www.musiktexte.online/ausgaben/mai-2025/durchlassigkeit-in-wertungswutiger-zeit

Erhard Grosskopf, geboren 1934. Studien der Medizin, Mathematik, Philosophie in Frankfurt, Studium der Komposition in Berlin, wo er seit sechzig Jahren als freischaffender Komponist lebte. Er starb mit 91 Jahren am 17. April 2025.

Ich traf Erhard Grosskopf zum ersten Mal in der „Woche der avantgardistischen Musik Berlin 1972“ bei einem Konzert mit Morton Feldmans „Pianos and Voices I“. Die Uraufführung spielten Cage, Cardew, Feldman, Rzewski, Tudor an fünf Flügeln, wobei Cage fünf Minuten länger als die anderen spielte. Feldman blieb wie erstarrt auf seinem Klavierhocker sitzen. Es war ein bemerkenswertes, fast fluxushaftes Ereignis, gefolgt von Erhard Grosskopfs Komposition „Sun. Musik für drei Gruppen“.

Erhard Grosskopf hatte für mich schon immer etwas von innen heraus Lächelndes. Ich fühlte mich wohl in seiner Nähe. Seine Musik hinter diesem Lächeln gab mir Rätsel auf. In seinen Kompositionen wollte er einen Verlauf ermöglichen, um sich und so auch die Zuhörenden von den sich begegnenden Klängen überraschen zu lassen. Zugleich musste er aber als Komponist diesen unvorhersehbaren Verlauf mit vielen Verzweigungen und Überschichtungen von Klängen auch konstruieren, um zu einer Metawelt vorzudringen, die seiner Musik eine Sanftheit, aber dann auch wieder eine Schroffheit, Rauheit und etwas Obstinates gab, das wie Gestein in den Weg des Fortschreitenden rollt, so dass man auch ins Stolpern dabei kam, nirgendwo sich festhalten konnte, da seine Musik sich selbst auch an nichts anlehnte. Diese Haltung des Nicht-alles-Bestimmenden, aber doch vorher Konstruierenden ist ähnlich der Disziplin, die oft im Buddhismus anzutreffen ist. Um Räume zu schaffen, muss es eine Disziplin geben, in der sich der Geist der Nicht-Verhaftetheit erproben kann.

Meine Vermutung ist, dass Erhard Grosskopf diese Haltung schon früh eingeübt hat, im Alltag, in seiner Phase der politischen Arbeit, beeinflusst vom Maoismus, wie er im Berlin der Sechziger Jahre als Form des Protests in Szene gesetzt wurde. Diese Haltung hat ihm später auch geschadet, als er für das ars nova ensemble nürnberg sein Werk „Looping 2 – Arbeiter und Bauern müssen sich erheben“ zur Uraufführung bringen wollte. Es beruhte auf einem chinesischen maoistischen Lied, das sehr diskret verarbeitet wurde. Das Stück wurde abgelehnt. Die Aufführung kam nicht zustande, Zensur. Danach begann für Erhard Grosskopf eine Durststrecke. Man hatte missverstanden, dass seine späteren „abstrakten Klangwelten“, wie sie apostrophiert wurden, hier bereits ihre Wurzeln hatten. Die Komposition ist alles andere als ein Agitprop-Stück. In ihr ist schon dieses Prinzip des Nicht-Eingreifens angelegt, wenn auch nicht so komplex wie in späteren Stücken.

Vielleicht erwuchs aus dieser politischen Arbeit auch Grosskopfs Arbeit als Kurator. So hat er zwischen 1978 und 1998 als Initiator und künstlerischer Leiter der Konzertreihe „Insel Musik“ das Berliner Musikleben bereichert. Erhard Grosskopf war dann auch in seiner Zeit als Direktor der Sektion Musik der Akademie der Künste Berlin von 2008 und 2012 ein sanft Lenkender.

Neben all diesen organisatorischen Tätigkeiten hat er ein breitgefächertes Werk hinterlassen. Die Titel haben teils Bildcharakter: „Schattensprung“, „Lichtknall“, „Zeit der Windstille“, teils Werkstattcharakter: „Hörmusik“, „Looping“, „Klangwerk“, „RaumKlangSkulptur“, welche sein kompositorisches Raum-Zeit-Denken am klarsten umreißen. Er bemerkt dazu: „Ich glaube, dass Klänge, wenn sie erscheinen, eine eigene Bedeutung bekommen. Sie enthalten eine Art Zeit-Energie, die in Verbindung mit den Klangkonstellationen mehrschichtiger Prozesse die Musikzeit in eine räumliche Dimension überführt.“

Ganz besonders plastisch wird dies in dem betörend schönen Stück „Plejaden – Sieben ähnliche Stücke“ für Klavier und Orchester von 2002, das auf sich selbst erneuernden Klangverläufen basiert. Diese sieben vierminütigen Stücke werden jeweils in bis zu 19 variierenden Konstellationen zum Klingen gebracht. Die Plejaden sind ein offener Sternhaufen, der mit bloßem Auge gesehen werden kann. Und so weisen die ähnlichen Stücke nicht über sich hinaus, wie etwa Stockhausens Mythengebäude in „Sirius“, sondern bleiben ganz bei sich, gewahrt durch eine lakonische Konstruktion.

Erhard Grosskopf hat der Musik und somit uns Zuhörenden etwas zurückgegeben, was in unserer wertungswütigen Zeit selten geworden ist: Durchlässigkeit.

Veröffentlicht in NEWS