POSITIONEN 135
C D
Walter Zimmermann
Chantbook for Lipparella
World Edition
Bereits Walter Zimmermanns 2021erschienene Dreifach-CD Voces (Mode Records) kreist um einen wichtigen Fokus seines Komponierens: den vielschichtigen, das Gesamtwerk durchdringenden Umgang mit Gesang, mit Stimmklang, sowie mit einer als Klangrede auf zufassenden, instrumentalen Artikulation. Zimmermann befreit in seiner Musik nicht nur das Wort zum Klang, sondern inszeniert gleichwertige Verhältnismäßigkeiten zwischen instrumentalen und vokalen Bestandteilen, wobei die Musik nicht in erster Linie dazu da ist, Gesang in einer untergeordneten, bloß dienenden Rolle zu begleiten. Darüber hinaus entstehen komplexe Partnerschaften wechselseitiger Art zwischen Musik und Text, wobei unter anderem Buchstaben in Tonbuchstaben verwandelt werden.
Ähnlich wie Voces ist auch die unlängst erfolgte Veröffentlichung Chantbook for lipparella als ein multiperspektivisches „Gesangbuch“ angelegt, das den Umgang des Komponisten mit Vokalisationen exemplarisch in zehn Stücken „aufblättert“. Die Aufnahmen sind in Zusammenarbeit mit dem schwedischen, 2008 gegründeten Kammerensemble Lipparella entstanden, das zeitgenössische Musik mittels eines Instrumentariums aus der Barockzeit beziehungsweise der Renaissance (Flöte, Oboe, Laute, Violine, Viola da Gamba),
erweitert durch Gesang (Countertenor), realisiert. Für diesen Klangapparat wurden acht bereits bestehende Kompositionen Zimmer manns eingerichtet, und auf der CD mit zwei weiteren, für Lipparella neu geschriebenen Stücken ergänzt.
Anverwandlungsprozesse liegen dem Komponisten nicht fern, im Gegenteil. Unter schiedliche Modi der Übertragung spielen bei ihm seit jeher eine Rolle, seien es instrumentale Transkriptionen von Gesangsaufnahmen, oder die Übersetzung von geschriebener Sprache, von Worten, Begriffen und Sinnzusammenhängen in Musik (vgl. exemplarisch die Klavierkomposition Voces Abandonadas von 2005/2006 (Wergo) auf Basis von Sentenzen des italienisch-argentinischen Schriftstellers Antonio Porchia).
Eine zusätzliche „Kontaktaufnahme“ zwischen Sprache, Literatur und Musik ist das Einbeziehen von Rezitation, die etwa bereits in den Songs of lnnocence andExperience (1996/2004) begegnet. Dies ist auch auf der vorliegenden CD in zwei Stücken anzutreffen, beiCirkel– Kontakt (2019), wo die dänische Dichterin lnger Christensen eigene Lyrik singt, und mit dieser Vortragsart bereits die innige Verbindung von Poesie und Musik dokumentiert, sowie in Ett avlägset land
– Das abgeschiedene land (2019), eine Text-Vertonung des schwedischen Dichters Gunnar Ekelöf, dessen Stimme in dem betreffenden Stück ebenfalls zu hören ist.
Typisch für Zimmermann geht es dabei nicht um eine gewollte Verschmelzung oder herbei gezwungene Synthese, sondern er stellt der Dichtung beziehungsweise der Sprachgestaltung anderer seine eigenen, nicht selten konzeptuell bestimmten Klangfindungen zur Seite, um einSpannungsfeld aufzubauen, das auf subtile Art und Weise eine Begegnung, beziehungsweise eine Kommunikation auf „höherer Ebene“ anstoßen kann.
Der transparent wirkende, präzise, aber auch warme Klang der Barockinstrumente sowie das tiefe Verständnis Lipparellas für den künstlerischen Ansatz des Komponisten ermöglicht diese Kommunikation auf eine eindrückliche und – man kann es ruhig sagen – zauberhafte Weise. Dies heißt jedoch nicht, dass Zimmermanns Musik von Lipparella in eine ferne, vormoderne Vergangenheit rücküberführt wird, sondern sie gewinnt an aktueller Präsenz mittels der Befreiung vom spätromantischen Gewand, in dem die zeitgenössische E-Musik bis heute instrumentalhistorisch eingekleidet ist. Dies wird auch bei den Stücken deutlich, in denen avantgardistische Techniken zum Zuge kommen, zum Beispiel dem von dem US amerikanischen Maler Brice Marden inspiriertenShadows of ColdMountains I (1994),wo drei mehr oder minder unisono angelegte Stimmführungen von drei Renaissance-Blockflöten in weit ausholenden Glissando-Bewegungen ausgeführt werden, oder dem auf Basis einer grafischen Partitur entstandenen Paraklet (1995), wo eine ebenso in drei Stimmen aufgefächerte Barockvioline diffizile Flageolett-Strukturen in Form einer nahezu grenzenlos fließenden Mikrovariantenbildung auszuführen hat.
Thomas Groetz