Beginner’s Mind – Herbert Henck, Piano / mode 346

 

Walter Zimmermann

Beginner’s Mind Anfänger sein für einen Pianisten

Beginner’s Mind ist das Ergebnis meines Studiums der gegenwärtigen europäischen Neue Musik-Szene. Es ist einerseits beeinflusst durch Erik Satie, der inmitten einer hochkomplexen musikalischen Landschaft in einfachster Weise schrieb, und andererseits durch John Cage, vor allem durch dessen Musik seiner ´naiven Periode´ um 1950; Waiting ist eines dieser Stücke.

Angesichts eines sich verselbständigenden Musikbetriebs, losgelöst von Öffentlichkeit, dazu überaus verwaltet, fand ich es bitter nötig, ein Stück zu schreiben, das das sich-durcharbeiten durch die gewordene Komplizierung zum Einfachen und Direkten hin zur Aufgabe hat. So entwarf ich eine Folge von vierzig Kapiteln, die Techniken eines Wegs vom Alten zum Neuen anhand des Aufarbeitens einer transkribierten Klavierimprovisation aufzeigen. Das Stück stellt den Prozess vom ´Komplexen´ zum ´Einfachen´ dar. Dies wird durch die Transformierung und Auflösung der transkribierten Klavierimprovisationen erreicht. Die Techniken dieses Prozesses sind von Shunryu Suzukis Buch Zen Mind, Beginner’s Mind (1970) abgeleitet und werden analog dem Buch in drei Hauptkapitel untergliedert: 1) Verlasse das Alte (Leave the Old), 2) Reinige den Geist (Clean the Old), 3) Verändere das Bewusstsein (Change your Consciousness). Das Stück endet mit dem Beginner’s Mind Lied, das das neue Bewusstsein artikuliert.

Beginner’s Mind nimmt seinen Anfang im Vorstellen von Materialien, die ich irgendwann auf meinem Klavier zuhause spontan gespielt habe. Fünf Momente repräsentieren das Alte, das in den drei anschließenden Hauptkapiteln dem Neuen, Einfachen Platz macht, wobei jedes der Hauptkapitel nochmals in zehn Unterkapitel untergliedert ist. Das erste Hauptkapitel greift die Fragmente des Vorgestellten auf und transformiert sie, je nachdem, was innerhalb der Unterkapitel gefordert wird. Diese lauten zum Beispiel: Sammle alles (Collect Everything), Verliere dich (Loose Yourself), Zerstöre was herum ist (Destroy what’s Around), Entdecke das Jetzt (Discover the Now). Das zweite Hauptkapitel stellt mögliche Variationen vor, die das Alte immer noch durchleuchten lassen. Es löst die Materialien auf, in Unterkapiteln wie: Lass Bilder kommen und gehen (Let Images Come and Go), Finde Perfektes durch Imperfektes (Find Perfectness through Imperfectness), Begrenze deine Aktivität (Limit your Activity), Löse Hindernisse auf durch Beständigkeit (Dissolve Obstacles through Constancy), Verbrenne dich vollständig (Burn yourself completely), Schöpfe aus der Leere (Create from Emptiness). Schließlich benutzt das dritte Hauptkapitel bewusstseinsverändernde Techniken, die die beim Auflösungsprozess gewonnenen Skalen als Material zur Neukonstruktion des abschließenden Beginner’s Mind Lieds verwenden. Das Material dieses Liedes wird gefunden in Unterkapiteln wie: Adaptiere dich an Stimuli (Adapt yourself to Stimuli), Schüttle deine automatischen Reaktionen durch (Shake through your automatic Responses), Hebe dein Zeitgefühl auf (Dissolve your Time-Feeling), Finde Stimuli mit denen du eins bist (Find Stimuli with which you are one), Fasse die entstehenden Ideen (Grasp the arising Ideas), Lass sie dich befreien (Let them free yourself). Der Pianist, dessen Körperhaltungen – parallel dazu – von dem objektiven Interpretieren eines heterogenen Texts zum subjektiven Mitgehen bei den sich herauslösenden einfachen Strukturen führen, intoniert zum Schluss des sechzig- Minuten-Stücks mit dem Beginner’s Mind Lied das Neue.

Im ersten Hauptkapitel werden unter dem Obertitel Verlasse das Alte (Leave the Old) die ausgewählten Fragmente durch schnelle Sechzehntel-Bewegungen gleichsam ´Abtastvorgängen´ unterzogen. Die Fragmente gehen dabei durch verschiedene Transformationen, etwa im Unterkapitel Gehe falsch (Go wrong), was nichts als ein ´Aufladen´ des Fragments mit Ornamenten bedeutet. Zudem greift das erste Hauptkapitel Momente des Vorgestellten auf und transformiert sie je nachdem, was die einzelnen Unterkapitel fordern. Mit dem Akzeptieren des Vergangenen bilden sich bereits die Kernstrukturen des Neuen aus, die zum Schluss des Stücks das Beginner’s Mind Lied formen. Beim Unterkapitel Werde zum Ansporn des Augenblicks (Become the Spur of the Moment) wird das Fragment zur Begleitformel der ersten Takte der Beginner’s Mind Melodie transformiert. Bei Verliere Dich (Loose yourself) wird das Ornamentale der vorhergehenden Transformation einem Melodiefragment angehängt, das bereits ein Vorgriff auf das Neue ist. Bei Zerstöre, was um dich herum ist (Destroy what’s around) wird versucht, das Alte zu verlassen, indem man es zerstört. Akzeptiere das Vergangene (Accept the Past) wiederum ist als Reaktion auf die vorherigen Momente zu verstehen, die das Verlassen des Alten zu umgehen versuchten. Hier wird die Kompliziertheit akzeptiert. Das erste Hauptkapitel schließt mit der Aufforderung Genüge dir selbst (Be yourself enough), in dem alle Fragmente zur Begleitformel transformiert sind, jedoch zunehmend der Beginner’s Mind Melodie Platz machen. Das erste Hauptkapitel stellte also Variationen vor, die das Alte immer noch durchleuchten lassen.

Das zweite Hauptkapitel löst unter dem Titel Reinige den Geist (Clean the Mind) die Materialien zu Skalen auf, die wiederum Material für die Konstruktion des Neuen, dem Beginner’s Mind Lied, werden. Finde Perfektes durch Imperfektes (find Perfectness through Imperfectness) zeigt noch einmal die Transformationen des Fragments in ´aufeinander gehäufter´ Weise. Verwandle geistiges Unkraut in geistige Nahrung (Change your Mind Weed into mental Nourishment) zeigt nun den entscheidenden Prozess der Auflösung des durch die Transformationen verdichteten Fragments in eine Skala, die sich zu einer der Melodien des Beginner’s Mind Lieds formt. Mit dem Akzeptieren des Vergangenen bilden sich bereits die Kernstrukturen des Neuen aus, die zum Schluss des Stücks das Beginner’s Mind Lied entstehen lassen. So wird im Unterkapitel Werde zum Ansporn des Augenblicks (Become the Spur of the Moment) das Fragment zur Begleitformel der ersten Takte der Beginner’s Mind Melodie transformiert. Diese Melodie ist das Ergebnis des Wegs weg vom Alten zum Neuen und erscheint zum Schluss nach dem noch vorzustellenden dritten Hauptkapitel in folgendem Textzusammenhang von Suzuki: „Wenn du denkst, du hättest Körper oder Geist, dann hast du auch Gefühle von Einsamkeit. Wenn du dir jedoch klar machst, daß alles nur ein Funke im weiten Universum ist, dann wirst du stark (If you think you have body or mind, you have lonely feelings, but when you realize, that everything is just a flashing into the vast universe, you become very strong)”. Der Weg zum Neuen ist jetzt möglich, wo das Alte aufgelöst ist. Alle Fragmente sind jetzt zu Melodien aufgelöst. Die zweite Hälfte des zweiten Hauptkapitels bringt nun den Prozess der ´Verinnerlichung´ dieser Melodien. Dabei wird eine Melodie ausgewählt und stellvertretend für die anderen durchgespielt. Der Pianist nimmt die Melodie in sich auf, indem er zunächst mitsingt, dann die Melodie selbst in einfaches Atmen überführt. Das zweite Hauptkapitel endet da, wo die Fragmente aufgelöst und die daraus gewonnenen Melodien vom Pianisten verinnerlicht sind, also bereit für das Singen im Beginner’s Mind Lied am Schluss.

Das dritte Hauptkapitel Verändere das Bewusstsein (Change your Consciousness) benutzt Katharsis-Techniken, um die Neukonstruktion des Beginner’s Mind Lieds zu manifestieren. Zunächst wird das harmonische Gerüst des Lieds gebaut, das im Folgenden expandiert und immer weiter virtuos aufgeladen wird, bis sich die Virtuosität so verselbständigt, dass sich der vom Pianisten intonierte Kernsatz des Lieds fast zwingend ergibt und Tabula rasa für das anschließende Lied macht: „Wir müssen Anfänger sein, frei von allem Besitzenden (We must have Beginner’s Mind free from possessing everything).“

Beginner’s Mind Song: Worte von Shunryu Suzuki aus Zen Mind, Beginner´s Mind:

„Eine Blume fällt sogar, obwohl wir sie lieben. / Und ein Unkraut wächst, obwohl wir es nicht lieben. / Das, was wir Ich nennen, ist nur eine schwingende Tür, die sich bewegt, wenn wir einatmen / und wenn wir ausatmen. / Es bewegt sich einfach, das ist alles. / Nicht zwei und nicht eins. / Unser Körper und unser Geist sind nicht zwei und nicht eins. / Unser Körper und unser Geist sind beides, zwei und eins. / Er bewegt sich nur, das ist alles. / Du denkst, du hast einen Körper oder einen Geist, du hast einsame Gefühle. / Aber wenn du erkennst, dass alles nur ein Aufblitzen in das weite Universum ist, wirst du sehr stark. / Es bewegt sich einfach, das ist alles. / Inmitten des Lärms wird dein Geist ruhig und stabil sein. / Wir müssen den Geist des Anfängers haben, der frei davon ist, alles zu besitzen. / Wenn du du bist, siehst du die Dinge, wie sie sind / und du wirst eins mit deiner Umgebung. / Es bewegt sich einfach, das ist alles. / Für den Mond gibt es die Wolke, für die Blume gibt es den Wind. / Es bewegt sich einfach, das ist alles. / Die Zukunft ist die Zukunft, die Vergangenheit ist die Vergangenheit. / Jetzt sollten wir an etwas Neuem arbeiten. / Was wir Ich nennen, ist nur eine schwingende Tür, die sich bewegt / wenn wir einatmen und wenn wir ausatmen. / Es bewegt sich einfach, das ist alles. / Sei immer ein Anfänger.”

Geschrieben wurde Beginner’s Mind für Herbert Henck, diesen phänomenalen Pianisten und Freund. Er hat mir den rechten Mut gegeben, das Stück zu komponieren. Vielleicht schafft das Stück etwas zu vermitteln, was im Motto von Beginner’s Mind angedeutet wird: „Eng die Brauen kalten Blicks trotz ich tausend Zeigefingern willig wie ein Büffel beug mein Haupt ich vor den Kindern.” (Lu Hsün)

(Dieser Text ist ein Kommentar anlässlich Herbert Hencks Uraufführung von Beginner’s Mind in Darmstadt 1976).


Thomas Groetz

Beginner´s Mind von Walter Zimmermann

Zeigen Sie mir etwas Neues; ich will von vorn anfangen.

Erik Satie

Gewiss‚ „es ist eine andere Schule“ diese Bewegung aus der Null.

John Cage1

Erik Saties Appell lässt zwar über einhundert Jahre später noch aufhorchen, doch es ist zweifelhaft, ob es dem Komponisten gelang, das Postulat einer radikalen Erneuerung oder eines Neubeginns wirklich fruchtbar zu machen. Das Anliegen, sich von zeitgenössischen Kompositionsmitteln zu distanzieren (er absolvierte zwischen 1905 und 1908 ein Studium des Kontrapunkts), hat zu zwitterhaften Stücken geführt, denen Bezüge auf vormoderne Musik eingeschrieben sind.2 Als ironiefrei erweisen sich demgegenüber Saties frühe Werke aus einer Zeit, als er noch mit dem Orden der Rosenkreuzer verbunden war – von dem er sich jedoch auch bald wieder abwendete.

John Cage wiederum fühlte sich nicht nur von einer nach Unabhängigkeit strebenden geistigen Haltung Saties, sondern auch von dessen mangelnder ´Elaboriertheit´ angesprochen. Wie der Franzose war er ein musikalischer Amateur, der mit konzeptuellem und spirituellem Gedankengut jonglierte. Dabei entpuppte sich der Amerikaner allerdings nicht als treuer Adept des Buddhismus; seine Idee, den zum altehrwürdigen Ryōan-ji-Tempel in Kyoto gehörenden Steingarten, den er im Rahmen eines Japan-Aufenthalts besucht hatte, sich auch in ganz anderer Anordnung vorstellen zu können3, verstörte die Traditionalisten. Man kann also in einem essenziellen Sinne im Grunde kein moderner Künstler, und zugleich spirituell sein. Oder, der Widerspruch zwischen dem Annehmen einer Überlieferung, der man sich zu unterwerfen hat und einem steten wie grundsätzlichen Verwerfen des Tradierten erzeugt ein Spannungsfeld, das den Exponenten der Moderne innerlich zerreißt, was letztlich zu einem eher rein konzeptuellen Umgang mit spirituellen Topoi führt. Dennoch hat sich ein operativ zu verstehendes Implementieren von Ideen, die von buddhistischem Denken abgeleitet sind, für die Genese der westlichen Nachkriegsmusik als fruchtbar erwiesen. Noch stets werden

Anregungen von Cage hinsichtlich einer ´Entindividualisierung´, eines Umgangs mit ´Absichtslosigkeit´, mit Zufallsprozessen und mit der Dimension einer (vermeintlichen) Leere kultiviert – auch, weil diese Aspekte (noch immer) mit dem Zeitalter des Existenzialismus´ konform gehen. Sich selbst ernsthaft spirituell in Richtung einer ´Befreiung vom Ich´ zu entwickeln, steht allerdings auf einem anderen Blatt – das kein Notenblatt ist, sondern ein lebendiger Vollzug.

Außer der oben angebrachten verschnörkelten, silbrig-grau glänzenden Schrift ist das von Michael von Biel gestaltete Cover der 1978 veröffentlichten LP Beginner´s Mind, das Walter Zimmermann – den musikalischen Urheber – nicht anfügt, leer, beziehungsweise weiß. Der Geist der- und desjenigen, die oder der neu beginnen möchte, soll blank sein – ein Feld, auf dem noch nichts gesät ist. Die Frage, ob etwas Neues aus dem Nichts entstehen kann, stellte sich Walter Zimmermann in einer Zeit, in der der Höhepunkt der musikalischen Innovationen des Postserialismus´ gerade überschritten war. „Grundsätzlich ist festzustellen, dass religiöse und spirituelle Thematiken sich in dem Maße in der Neuen Musik bemerkbar machten, wie das Diktum der sogenannten Materialerweiterung infrage gestellt wurde“4. Parallel dazu stand allgemein – obwohl die Beschäftigung mit Zen für Walter Zimmermann damals auch eine existenzielle Dimension besaß – ein Interesse am Buddhismus in voller Blüte. Neben der ursprünglich 1970 veröffentlichten Schrift Zen Mind, Beginner´s Mind von Shunryu Suzuki gab es etwa auch das weit verbreitete Buch Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten von Robert M. Pirsig, das in deutscher Übersetzung in Frankfurt ungefähr zeitgleich mit der LP Beginner´s Mind erschienen war. Europa begeisterte sich für Zen, und beschäftigte selbst links-alternative Kreise, die womöglich östlichem Gedankengut auf dem langen Marsch durch die Institutionen eine gesellschaftsbezogene, subversive Bedeutung zusprachen. Mittlerweile haben genau diese Kreise spirituelles Denken weitestgehend diskreditiert, zugunsten einer Apotheose des Menschen und des Menschen-Möglichen, das mittels Biogenetik und sogenannter künstlicher Intelligenz auf den Weg gebracht werden soll.

Die jenseits aller Zeitgeist-Phänomene angesiedelte Gültigkeit des Zen und anderer, auf überliefertem Wissen fundierter Systeme jedoch, wie etwa auch die Lehre von Georg I. Gurdjieff, dessen Klaviermusik Herbert Henck als einer der ersten Konzertpianisten jenseits abgeschlossener Zirkel zu verbreiten suchte, steht außer Frage. Gurdjieff erwähnte zu Beginn seines allegorisch zu verstehenden Buchs Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel eine bezeichnende autobiographische Geschichte, in der die Großmutter dem Knaben auf ihrem Sterbebett für die Ausrichtung seines späteren Lebens folgenden Ratschlag erteilt: „Tu nie im Leben, was die anderen tun“5. Gurdjieff beherzigte dies und war in der Folge zu einem kreativen und unumstößlichen Verfechter einer möglichen ´Erneuerung´ des Menschen geworden, was eine tiefe Skepsis gegenüber dem sogenannten modernen Leben mit einschloss.

Das mit der Programmatik des ´Beginner´s Mind´ verbundene Ansinnen von Walter Zimmermann war nicht nur ein kompositorisches, sondern auch ein kulturpolitisches. Zudem ging und geht es ihm darum, die avancierte musikalische Moderne der 1950er und 1960er Jahre nicht komplett zurückzuweisen, sondern diese ohne Bedeutungsverlust in etwas anderes, neues zu überführen. Zimmermanns Fakturen sind zwar vielfach ´einfacher´ gehalten als etwa Stücke von Xenakis oder Stockhausen; dennoch behält er wichtige Charakteristika der postseriellen Musik bei, etwa Polytonalität, rhythmische Ungebundenheit und die Verweigerung einer konventionellen Vorstellung von Harmonie und musikalischer Entwicklung, die vor allem das Ergebnis der Inanspruchnahme konzeptueller Verfahren ist.

Dabei ist ihm klar, dass eine ´Überwindung´ hoch- und überkomplexer Kompositionsmethoden weder durch pure Abwehr, noch durch den Regress allein gelingen kann. Die unbekümmert anmutenden Artikulationen eines John Cage aus dessen ´naiver Phase´ der frühen 1950er Jahre nochmals aufleben zu lassen, war ihm – trotz aller Bewunderung – nicht genug. Stattdessen bindet Zimmermann seinen Klavierzyklus Beginner´s Mind historisch europäischer an, etwa, indem er ihn mit einer transkribierten Improvisation beginnen lässt, die er als „Fünf Momente im Leben des Franz Schubert“ charakterisiert hat.

Die Blaupause für die Fülle unterschiedlicher Formbildungen bei Zimmermann entstammt als ein wörtlich genommener, zugrundeliegender Text den drei Hauptkapiteln, sowie jeweils zehn Unterpunkten des Buches von Shunryu Suzuki. Am Ende von Beginner´s Mind steht eine aus den unterschiedlichen kompositorischen Wandlungen herausdestillierte, einfach gehaltene, liedhafte Musik, zu der der Pianist auch noch zu singen hat. Nicht nur wegen dieser Herausforderung, sondern aufgrund der Notwendigkeit, bei der ´Verwirklichung´ der Partitur auch am eigenen Bewusstseinszustand zu arbeiten – was im Grunde eine noch größere Schwierigkeit darstellen kann, als hochkomplexe Spielanweisungen umzusetzen – leitete Herbert Henck einen Text zu dem Klavierzyklus mit der Bemerkung ein: „Walter Zimmermanns Beginner´s Mind ist eine Mutprobe – für den Komponisten, den Interpreten, für den Hörer“6.

Weniger eine Mutprobe, oder ein Sprung ins kalte Wasser, sondern ein eigens entwickeltes Gestaltungsmodell bedingt die Anverwandlungsprozesse, die bei zahlreichen Werken von Walter Zimmermann zum Tragen kommen. Unterschiedliche Modi der Übertragung, des Extrahierens von Musik aus einer sprachlichen oder auch bildnerischen, grafischen Grundlage spielen bei ihm als Kompositionswerkzeug seit je her eine Rolle, sei es bei der instrumentalen Transkription von Gesangsaufnahmen, oder der Übersetzung von geschriebener Sprache, von Worten, Begriffen und Sinnzusammenhängen in Musik (vgl. exemplarisch die Klavierkomposition Voces Abandonadas von 2005/2006 auf Basis von Sentenzen des italienisch-argentinischen Schriftstellers Antonio Porchia). Wie später dort wird bereits die Textgrundlage von Beginner´s Mind akribisch genau in eine musikalische Idiomatik übersetzt. Wie das im Detail geschieht, bekommt der Hörer im Grunde nur mit, wenn er Zimmermanns ausführliche Erläuterungen zu Rate zieht, die der Partitur beigegeben werden können – insbesondere für die Interpretation ist das natürlich von Bedeutung. Das ´neu beginnen´ schließt also eine paradoxe Bewegung mit ein. Vorhandenes Material, an dem man sich abarbeiten muss, ist die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu einem Prozess der Los- und Ablösung kommen kann. Es ist illusorisch, auf einfache Weise aus dem Nichts heraus anzufangen; stattdessen muss man im Gegenteil nochmals auf neue Weise durch Bestehendes hindurchschreiten, als vielleicht nicht einzigem, so doch möglichem Weg, um weiter bzw. zu anderen Schlüssen und Ergebnissen zu kommen.

1 John Cage: Erik Satie, aus: Musik-Konzepte 11: Erik Satie, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. München 1980, S. 34.

2 Vgl. etwa Fugue Litanique und Fuge en Papier aus der 1911 entstandenen Klaviersuite

En Habit de Cheval.

3 Vgl. You Nakai: Of Stone and Sand: John Cage and David Tudor in Japan, 1962. https://post.moma.org/of-stone-and-sand-john-cage-and-david-tudor-in-japan-1962/      4 Thomas Groetz: Wohin soll ich mich wenden… Betrachtungen zum Thema Neue Musik und Spiritualität. In: Positionen. Texte zur aktuellen Musik. Nr. 129, Berlin, November 2021, S. 23.

5 G. Gurdjieff: All und Alles. Innsbruck 1950, S. 27.

6 Herbert Henck: Walter Zimmermanns ´Beginner´s Mind´ (1975). In: Neuland 1, Aufsätze zur Musik der Gegenwart, hrsg. von Herbert Henck. Köln 1980, S. 102.


Walter Zimmermann

Meister Eckhart

Meister Eckhart beschäftigt mich schon über mehrere Jahrzehnte. Angeregt durch meine ersten ´Fluchtversuche´ nach Amerika, wo ich bei der Lektüre von John Cages Diaries und Essays wieder auf Eckhart stieß und ihn sofort als Brücke von Cage zu Zen zu Europa verstand. Zurück in Köln besuchte ich das Meister-Eckhart-Institut und traf dort noch Josef Quint, den inzwischen verstorbenen Herausgeber der Schriften an, und las in den mittelhochdeutschen Ausgaben. Herbert Henck schließlich schenkte mir eine Eckhart- Ausgabe zum Geburtstag. Zugleich studierte ich gregorianischen Gesang anhand von in der Musikwissenschaft greifbaren Büchern und versuchte diese Erfahrungen in ein erstes Stück Gelassenheit für Alt und zwei Gitarren umzusetzen. Auch versuchte ich, die bei Eckhart als Scintilla animae (das Seelenfünklein) beschriebene Erleuchtungserfahrung darzustellen. Aber ich merkte bald, dass das etwas verkrampfte Wollen dieses Stückes lange nicht einlösen kann, worauf Eckhart abzielt. Es wurde sozusagen Gelassenheit in Befehlsform: „Darum fang zuerst bei Dir selbst an und lass Dich!“ Nun ließ ich Meister Eckhart in Ruhe, da ich noch nicht reif für ein tiefer gehendes Verständnis war, löste schließlich im Klaviersolo von Ephemer das Stück auf, indem ich es durch eine paradoxe Überlagerung zu ´transzendieren´ hoffte.

Ephemer entstand 1981. Danach verstand ich, dass man die Gedanken Eckharts in keiner Weise programmatisch vorstellen kann, sondern sie direkt in die Behandlung des Materials eingehen lassen muss. Das bedeutet, die Ideenbehaftetheit der Worte Meister Eckharts in Klang aufzulösen und so einen Prozess einzuleiten, der schließlich auch die Worte selbst auflöst.

Ähnlich wie man im Zen zu dem Punkt kommen sollte, nicht mehr über Zen sprechen zu wollen/müssen, weil er so in das alltägliche Leben eindringt, dass man nicht mehr bemerkt, wie man Zen lebt, so versuchte ich, das Denken Meister Eckarts zu durchdringen, um es in mein Denken über Musik zu überführen. Ich gab mir Mühe, ohne programmatische Selbstaufforderung, ständig meine Verhaftungen mit Vergangenheit aufzulösen. Mein Projekt Lokale Musik sollte so verstanden werden, obwohl man es oft gerade umgekehrt interpretierte, also als eine Zurückwendung, während es in Wirklichkeit doch ein ikonoklastisches Vorgehen war. Ich nahm und nehme mir bewusst ´konservative´ Phänomene unserer Kultur vor, um sie von ihren wechselseitigen Besetzungen zu lösen. Den Punkt zu erreichen, eben diese Phänomene nicht mehr zu besetzen, sie in ihrer Eigentlichkeit Gestalt werden zu lassen, kommt dem nahe, was im Zen-Buddhismus Nicht-Verhaftetheit und bei Meister Eckhart eben Gelassenheit bedeutet.

So gewann der Prozess Gestalt, ausgehend von dem vitaleren und noch Transzendenz verbergenden Stück In der Welt sein (für ein Tenor-Instrument), an das der Garten des Vergessens (1985 vom Clementi-Trio in Basel uraufgeführt) anschließt, der die letzte Floskel des vorherigen Stücks aufgreift und aufbricht durch eine Technik der bewussten ständigen Verwirrung dieser Floskel – sie soll schließlich so ungreifbar werden, dass sie vergessen wird. Das Stück Abgeschiedenheit (für Klavier Solo 1982) als Gegenpol zu In der Welt sein öffnet den Raum zur eigentlichen Auflösungsarbeit in dem Stück Lösung, das im Nicht-Klingen endet. Danach bleibt nur noch, die Texte von Meister Eckhart selbst – die den Stücken Weg und Richtung geben – aufzulösen. Dies geschieht durch eine in den letzten Jahren entwickelte Technik, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, da sie zu erklären zum ´Schaden des Lassens´ wäre. Auf die Frage, was er den jungen deutschen Komponisten empfehlen würde, antwortete John Cage in Bremen 1982: „Meister Eckhart lesen“. Dies tat ich.

(Kommentar anlässlich Herbert Hencks Uraufführung von Abgeschiedenheit in Köln 1985)


Christopher Fox

Cage-Eckhart-Zimmermann

Walter Zimmermann, der Sohn eines Nürnberger Bäckers.

Bruce Chatwin

Walter Zimmermann (geb. 1949) ist einer der erfindungsreichsten Komponisten der deutschen Musikszene, der nicht nur durch seine eigene Musik, sondern auch durch sein begeistertes Eintreten für eine Vielzahl anderer Musiken auffällt. In Köln, wo Zimmermann seit seiner Studienzeit bis zu seiner Übersiedlung nach West-Berlin ansässig war, gründete er 1977 das Beginner Studio, in dem er eine Konzertreihe veranstaltete, die von der Improvisation bis zum Minimalismus, von der Avantgarde bis zur ethnischen Musik alles umfasste. Insbesondere nutzte er das Beginner Studio, um viele der ´experimentelleren´ amerikanischen Komponisten vorzustellen, deren Musik er bei der Vorbereitung seines berühmten Interviewbuchs Desert Plants kennengelernt hatte. Zimmermann war auch Pianist des renommierten Ars Nova Ensembles in Nürnberg. Zimmermanns Ausbildung als Komponist war ziemlich typisch: Studium bei Werner Heider und dann bei Kagel, Theorie der musikalischen Intelligenz am Institut für Sonologie in Utrecht und Computermusik an der Colgate University in New York. Doch wie viele Komponisten seiner Generation war er Mitte der 1970er Jahre etwas desillusioniert von den Ausdrucksmöglichkeiten und Ressourcen der Tradition der Neuen Musik. Daraufhin beschlossen er und zwei andere in Köln beheimatete Komponisten, Kevin Volans und Clarence Barlow, sich auf die Suche nach ihrer ´eigenen´ Musik zu machen, der Musik der Orte, aus denen sie stammten. Für Zimmermanns Kollegen war dies eine längere Reise als für ihn: für Kevin Volans eine Rückkehr nach Südafrika, für Clarence Barlow eine Reise nach Indien, für Walter Zimmermann eine Reise ins südliche Franken, aus der die Lokale Musik hervorging: vier Gruppen von Stücken für Orchester, Kammerensembles und Solisten.

Ein immer wiederkehrendes Merkmal in Zimmermanns Werk, sowohl vor als auch nach Lokale Musik, ist seine Vorliebe, Stücke zu größeren Zyklen und in zwei Fällen auch zu Gruppen innerhalb von Zyklen zusammenzufassen. So besteht Lokale Musik (1977-1981) aus einem Prolog, Ephemer (jetzt im Meister-Eckhart-Zyklus), vier Orchesterwerken unter dem Gesamttitel Ländler-Topographien, vier Stücken für kleinere Ensembles unter dem Titel Leichte Tänze, dem Harfenstück Wolkenorte, drei Stücken unter dem Titel Stille Tänze und einem Epilog, Der Tanz und der Schmerz (zurückgezogen). Sternwanderung (1982-84) besteht aus zwei Unterzyklen. In einigen Fällen, wie im Klavierzyklus Beginner’s Mind, waren die Stücke von Anfang an als Teil eines bestimmten kompositorischen Projekts konzipiert.

Zimmermann scheint unschlüssig zu sein, inwieweit Werke, die im Rahmen eines bestimmten Zyklus konzipiert wurden, im Kontext des gesamten Zyklus gehört werden müssen. Einerseits ist jedes der einzelnen Stücke, die er seit Beginner’s Mind geschrieben hat, kurz genug, um problemlos in einem gemischten Programm untergebracht werden zu können; andererseits hat jeder Zyklus eine innere Logik, die sich nur verwirklichen lässt, wenn der Zyklus vollständig gehört wird. Dennoch spricht die grobe finanzielle Zweckmäßigkeit gegen eine vollständige Aufführung von, sagen wir, Vom Nutzen des Lassens, wenn dieser Zyklus elf Musiker benötigt, aber nie mehr als drei von ihnen zum selben Zeitpunkt verwendet werden. Die Anziehungskraft zyklischer Kompositionen ist jedoch leicht verständlich und in der Musik der Nachkriegsavantgarde nicht ungewöhnlich; Pli selon pli ist ein Beispiel, Music In Twelve Parts ein anderes. Man könnte sogar behaupten, dass solche Sammlungen von Instrumentalwerken, in denen bestimmte philosophische und musikalische Ideen untersucht werden, sich drehen und wenden, das am meisten authentische Äquivalent der Moderne zur Mahlerschen symphonischen Struktur sind.

Zur Veranschaulichung der Integrität von Zimmermanns Zyklen, des Ausmaßes, in dem einzelne Stücke als zu einem bestimmten Werk gehörig angesehen werden können, ist es vielleicht am einfachsten, sich Lokale Musik zuzuwenden. Jedem Stück der Lokalen Musik liegen Bezüge zu Franken zugrunde, mal klanglich (das Orchester für Ländler Topographien, den ersten Unterzyklus der Lokalen Musik, wird um viele der für fränkische Stadtkapellen charakteristischen Blasinstrumente erweitert), mal verbal (das Schlagzeugstück Riuti ist eine instrumentale ´Transkription´ fränkischer Ortsnamen), immer melodisch, indem es die Melodien der fränkischen Volksmusik aufgreift und neu arrangiert, auflöst, auslöscht.

Gleichzeitig gibt es innerhalb des Gesamtwerks das, was Zimmermann einen „Zyklus der Transzendenz“ nennt: Die Musik wird nach und nach substanzloser und weniger verwurzelt mit dem melodischen Boden, auf dem sie gewachsen ist. Ähnliche transzendentale Tendenzen sind innerhalb jedes Zyklus und jedes Stücks zu beobachten: In der letzten Gruppe von Stücken, den Stillen Tänzen, gibt es eine Entwicklung von einem lustvollen Trio, den Erd- Wasser-Lufttönen, für Posaune, präpariertes Klavier und geriebene Weingläser zu einem ätherischen Streichquartett, dem Keuper; während es in den Kärwa-Melodien (für zwei Klarinetten, dem zweiten Stück aus den Leichten Tänzen, dem zweiten Unterzyklus) ein allmähliches Accelerando gibt, verbunden mit einer allgemeinen Verlagerung zu rhythmisch komplexerer Musik.

Ideen der Transzendenz sind nicht nur in Lokale Musik zu finden, wo es Zimmermanns erklärte Absicht war, „diese Lokalität [d. h. Franken oder zumindest die fränkische Volksmusik] für das Universelle zu öffnen“. Man könnte sogar sagen, dass sie Zimmermanns gesamtes Werk prägen. Eine entscheidende Quelle für diese Ideen sind die Schriften des Mystikers Meister Eckhart aus dem 13. Jahrhundert, die bereits 1975 in Zimmermanns Werk eingeflossen sind, als Gelassenheit, jetzt der Prolog von Vom Nutzen des Lassens, geschrieben wurde. Sie tauchen in Lokale Musik wieder auf, wo im Harfenstück Wolkenorte die Harfenistin zu Beginn und am Ende des Werkes Vertonungen von Eckhart-Texten zu singen hat, und sie finden ihre umfangreichste Verwirklichung im gesamten Vom Nutzen des Lassens. Aber Eckhart, obwohl der einflussreichste, ist nicht der einzige Mystiker, der Zimmermann inspiriert hat. Beginner’s Mind hat seinen Titel, seine Form und das zugrunde liegende philosophische Programm von Shunryu Suzukis Zen Mind, Beginner’s Mind. Die chassidische Tradition des jüdischen Denkens im Allgemeinen und die Schriften Martin Bubers im Besonderen haben ebenfalls einen Einfluss ausgeübt, der beispielsweise im Kehraus Galopp, der den Freunde-Zyklus abschließt, deutlich wird.

Diese Sammlung von Einflüssen mag vielfältig erscheinen, da sie aus einem Zeitraum von mehr als sieben Jahrhunderten und sowohl aus dem Westen als auch aus dem Osten stammt, doch durch alle Quellen zieht sich der Wunsch, ein Bewusstsein von Dingen jenseits der materiellen Welt zu erlangen und den Beschränkungen der Zeit und des Egos zu entkommen. Suzuki schreibt, dass „das, was wir Ich nennen, nur eine schwingende Tür ist, die sich bewegt, wenn wir ein- und ausatmen“; Eckhart weist den Devotee an, „die Zeit zu erobern, denn die Zeiten sind schlecht. Du musst also bei dir selbst anfangen, indem du dich selbst befreist“. Der anonyme rabbinische Autor des Kehraus Galopp gibt das Rätsel auf: „Wenn ich ich bin, weil du du bist, und wenn du du bist, weil ich ich bin, dann bin ich nicht ich und du bist nicht du“.

Zimmermann begegnete Meister Eckhart zum ersten Mal in den Schriften von John Cage, und die Verquickung von Eckhart und Zen bei Zimmermann hat einen offensichtlichen Präzedenzfall bei Cage. In der Vorlesung Komposition als Prozess in Silence2 nennt Cage Aspekte in den Werken von Earle Brown, Morton Feldman und Christian Wolff, die ihm mit Eckharts Gedanken verbunden erscheinen. Über Wolffs Duo II für Pianisten sagt er, dass es von jedem Interpreten verlangt, „sich von sich selbst und seinem Ich-Gefühl der Trennung von anderen Wesen und Dingen abzuwenden, [so dass] er dem Grund von Meister Eckhart gegenübersteht, aus dem die Unbeständigkeit fließt und zu dem sie zurückkehrt. Gedanken entstehen nicht, um gesammelt und gehegt zu werden, sondern um fallen gelassen zu werden, als ob sie leer wären.“ Es gibt jedoch signifikante Unterschiede zwischen Cages und Zimmermanns Entwicklungen dieser Ideen, Unterschiede, die sich im Grunde aus radikal unterschiedlichen Reaktionen auf Zen ergeben. Zimmermann, der Beginner’s Mind in seinen gesammelten Schriften Insel Musik3 vorstellt, sagt, dass er sich darin für eine „einfachere Art zu schreiben“ entschieden hat, als Antwort auf seine Begegnung mit Zen und, bezeichnenderweise, auf die Klaviermusik von Cages sogenannter ´naiver´ Periode um 1950. Im Gegensatz dazu schreibt Cage 1961 im Vorwort zu Silence: „Was ich tue, möchte ich nicht dem Zen anlasten, obwohl ich bezweifle, dass ich ohne meine Auseinandersetzung mit Zen das getan hätte, was ich getan habe“4.

Für Cage bestand die Herausforderung des Zen nicht darin, ein musikalisches Äquivalent für die ´Leere´ eines Zen-Gartens zu finden, sondern darin, durch Zufalls-Operationen die Grenzen seines Geschmacks zu sprengen und folglich eine Musik zu schaffen, „in der alles willkommen war“. 1968, im Gespräch mit Daniel Charles in For the Birds, erklärt Cage, dass „es unmöglich ist, in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts naiv an Zen zu glauben (…) aber Zen (…) wäre nützlich, um uns die Augen dafür zu öffnen, was das technologische Universum bedeutet. Wir werden es nie verstehen, wenn wir nicht eine Haltung einnehmen, die zumindest mit der des Zen verwandt ist“5. Diese Haltung führte zu einer Neuinterpretation seines Verhältnisses zu Eckharts Denken und 1968 schreibt er in M: „Meister Eckhart sprach von der Einfachheit der Seele. Aber die Natur ist kompliziert. Wir müssen die Seele loswerden oder sie darauf trainieren, mit endlos vielen Dingen umzugehen“6.

Für Zimmermann und Cage haben Eckhart und Zen ganz unterschiedliche Implikationen: für Cage stellen sie einen Fundus an Ideen dar, der seine Erfahrung der zeitgenössischen Welt zwangsläufig modifizieren muss; für Zimmermann stellen sie zeitlose Ideale dar, nach denen er und seine Musik streben sollten. Aber der Vergleich mit Cage ist nützlich, da Zimmermann in Cages früher Musik einen wichtigen Ausgangspunkt für sein eigenes Werk findet. Wie bereits erwähnt, war Zimmermanns Hinwendung zu einer neuen, ´einfacheren´ Kompositionsweise in Beginner’s Mind von seiner Bewunderung für die Klaviermusik der ´naiven´ Periode von John Cage beeinflusst. Ein noch bedeutenderer Einfluss scheinen jedoch Cages Ensemblewerke aus den Jahren 1950 und 1951 zu sein, wie z.B. String Quartet in Four Parts (1950), Six Melodies for Violin and Piano (1950), Sixteen Dances (1951) und Concerto for Prepared Piano and Orchestra (1951), die alle von einer Vorliebe für Hocketing und eine ätherische Klangwelt, in der vor allem Obertöne vorherrschen, bestimmt sind. Dies sind gängige Merkmale der Lokalen Musik, nirgendwo mehr als in den Fränkischen Tänzen, wo zehn fränkische Melodien für Streichquartett vollständig als Hockets auf natürlichen Obertönen arrangiert sind.

Es gibt ebenso Ähnlichkeiten zwischen den kompositorischen Techniken von Zimmermanns frühen Werken und denen von Cage aus den frühen 1950er Jahren. Calvin Tomkins7 hat beschrieben, wie Cage beim Schreiben der Sixteen Dances eine Reihe großer Diagramme anfertigte, auf denen er rhythmische Strukturen aufzeichnen konnte; ein Ansatz, der ihn schnell zur Verwendung des Zufalls führte. „Irgendwie“, so sagte er, „kam ich zu dem Schluss, dass ich nach den Zügen auf diesen Karten komponieren könnte, anstatt gemäß meiner eigenen Aufgabe“.

Auf den Diagrammen ordnete Cage Details des Rhythmus, der Instrumentierung, der Dynamik und der Tonhöhengruppen (oder vier Spielräume, wie er sie zu nennen pflegte) an, mit denen er arbeiten wollte. Indem er das Ergebnis der Bewegungen auf den verschiedenen Diagrammen kombinierte, war er in der Lage, das von ihm gewählte Material zu Mustern zu komponieren, die nicht seiner unmittelbaren Wahl entsprachen. In ähnlicher Weise spricht Zimmermann in seinen Notizen zur Komposition von Lokale Musik davon, dass er Diagramme oder (sein Wort) Matrizen benutzte, um zu bestimmen, welche Tonhöhengruppen mit welcher rhythmischen Gruppe kombiniert werden sollten (sowohl Tonhöhen- als auch rhythmische Gruppen waren zuvor von Fränkischen Ländlern abgeleitet worden). Die Matrix ermöglichte, wie er schreibt, „eine Instrumentation der Ländler auf eine Weise, die keinen besonderen Ausdrucksstil erforderte“.

Man könnte also argumentieren, dass Zimmermanns frühes Werk eine Fortsetzung einer Ästhetik war, die Cage in den frühen 1950er Jahren initiiert und dann aufgegeben hatte. Indem Zimmermann dieser Ästhetik musikalischen Ausdruck verlieh, entwickelte er jedoch eine Musik, die sich deutlich von derjenigen von Cage unterscheidet. Insbesondere seit Lokale Musik hat Zimmermann das entwickelt, was er als ´nicht-zentrierte Tonalität´ bezeichnet, eine Technik, die zweifelsohne aus seiner Erfahrung mit dem tonalen Material der Fränkischen Volksmelodien in Lokale Musik erwachsen ist. Während in Lokale Musik (und bis zu einem gewissen Grad auch in Freunde) die Tonalität melodisch artikuliert wurde, strebt Zimmermann in den folgenden Werken eine melodische Musik an, die dennoch tonales Tonmaterial verwendet.

Um dies zu erreichen, entnimmt Zimmermann seine Tonhöhen aus allgemein diatonischen Sammlungen, komponiert mit ihnen aber so, dass keine Tonhöhe überwiegt; auf diese Weise vermeidet er es, ein zeitliches Gefühl der harmonischen Verwurzelung zu erzeugen. Auch hier werden Matrizen verwendet, um zu bestimmen, wie lange eine bestimmte Tonalität verwendet wird, bevor sie durch eine andere ersetzt oder überlagert wird; auch auf diese Weise ist keine Tonalität vorherrschend. Nachdem Zimmermann die tonale Neutralität seines Tonmaterials sichergestellt hat, verstärkt er sie durch die Einführung einer vergleichbaren Neutralität von Metrum und Rhythmus. Jede Tonhöhe oder Gruppe von Tonhöhen erhält für eine bestimmte Zeit den gleichen Zeitwert, an dessen Ende ihr eine neue Dauer zugewiesen wird. In der polyphonen Musik kann Zimmermann sowohl unterschiedliche Tonalitäten als auch unterschiedliche Dauern überlagern, wie in den Schlusstakten des Klavierstücks Abgeschiedenheit (1982) aus Vom Nutzen des Lassens. [Musikbeispiel]

Da diese Musik in der Regel aus Strängen von gleichmäßig wiederholten Einzeltönen besteht, wie in Abgeschiedenheit, oder aus Tonhöhenpaaren mit derselben Dauer, wie in dem Solosaxophonwerk In der Welt sein aus demselben Zyklus, gibt es wenig oder gar kein Gefühl dafür, dass ein musikalisches Ereignis auf ein anderes folgt. Da die verwendeten Dauern in der Regel die Sechzehntelnote als gemeinsamen Nenner haben und selten länger als eine halbe Note sind, gibt es gleichzeitig einen gleichmäßigen Hintergrundpuls, der durchgängig beibehalten wird, und kein einziger Strang hat jemals die Unterscheidungskraft eines individuellen Pulses, die Komponisten wie Ligeti und Birtwistle auf ihre sehr unterschiedliche Weise so effektiv genutzt haben.

In Vom Nutzen des Lassens ist diese Neutralität von Rhythmus und Tonalität von zentraler Bedeutung für die Absicht des Werks, eine ´bilderlose´ Musik zu schaffen und Meister Eckharts Diktum zum Ausdruck zu bringen, dass „man sich nur ein Bild von dem machen kann, was jenseits des eigenen Ichs existiert, (…) und da es immer zu dem führt, wovon es ein Bild ist, wäre es für dich unmöglich, durch ein Bild jemals Seligkeit zu erlangen. Darum muss im Innern Stille und Schweigen herrschen“. Zimmermann geht noch weiter in Richtung einer Eckhart’schen Stille, indem er mehrfache Wiederholungen kurzer Musikmomente einführt, die den ohnehin nicht zielgerichteten Fluss der Musik vorübergehend unterbrechen und das Gefühl des Hörers für das Vergehen der Zeit stören. Obwohl man meinen könnte, dass solche Wiederholungen eigentlich klarere Bilder innerhalb der Musik schaffen würden – Wiederholung erzeugt schließlich in der Regel Vertrautheit – achtet Zimmermann darauf, Fragmente zu wiederholen, die entweder keine klar erkennbare melodische oder harmonische Kontur haben oder aber unterschiedlichen Wiederholungen unterworfen sind, so dass ihre Konturen verschwimmen. In Abgeschiedenheit zum Beispiel wird eine elf-tönige Phrase einmal gespielt, dann werden die ersten acht Noten gespielt, dann die ersten sechs, dann die ersten vier, woraufhin sie sich wieder auf sechs, dann acht, dann elf Noten ausdehnt, bevor die Musik weitergeht.

Das Prinzip der flexiblen Wiederholung wird in dem Klaviertrio aus Vom Nutzen des Lassens, Garten des Vergessens, am Gründlichsten erforscht. Hier reduziert Zimmermann sein auf Tonhöhen und Dauern bezogenes Material auf ein Minimum und verwendet durchgehend nur drei Dauern (Sechzehntelnote, punktierte Achtelnote und Viertelnote) und vier Tonhöhen (C, D, Es und E). Vier unabhängige Materialstränge (für Violine, Cello, rechte Hand des Klaviers und linke Hand des Klaviers) wechseln sich kontinuierlich ab, wobei jeder Strang aus einer Folge von wiederholten Figuren besteht, die aus einer, zwei oder drei Tonhöhen bestehen. Zu Beginn des Stücks werden nur C, D und Es verwendet; nach etwa der Hälfte des Stücks wird E natural eingeführt und breitet sich allmählich in der Textur aus, vom Bass des Klaviers zum Diskant des Klaviers und dann zu den tragenden Instrumenten, zuerst zum Cello und schließlich zur Violine; auf den letzten beiden Seiten der Partitur werden nur C, D und E

verwendet. Diese extreme Beschränkung des Materials und das Fehlen jeglicher Koordination von Wiederholungsanfängen und -abschlüssen führt zu einer paradoxen Gesamtwirkung: Man hat das Gefühl, dass die Dinge im Wesentlichen gleich bleiben, und gleichzeitig hat man das Gefühl, dass die Ereignisse ständig im Fluss sind. Einmal mehr gelingt Zimmermann eine Musik, die sich konsequent weigert, zu einem einzigen Hörbild zu verschmelzen.

In Lokale Musik hat Zimmermann die innere Entwicklung der einzelnen Werke des Zyklus so angelegt, dass sie die Entwicklung des gesamten Zyklus widerspiegelt. Dasselbe gilt für Vom Nutzen des Lassens, wo die vier Hauptteile des Zyklus, In der Welt sein, Garten des Vergessens, Abgeschiedenheit und Lösung (für Bratsche, Cello und Kontrabass), als Beschreibung eines ´Zyklus der Transzendenz´ angesehen werden können. Die anderen Werke des Zyklus, Gelassenheit für Stimme und Gitarren, das Klaviertrio Ephemer und Selbstvergessen für Stimme und Violine, sind als Prolog, Intermezzo bzw. Epilog konzipiert und stehen außerhalb der Hauptentwicklungslinie des Zyklus´. Ausgehend von der lauten und aggressiven Saxophonmusik von In der Welt sein gelangt der Zyklus schließlich in die nicht- körperliche Welt der harmonischen Reihe in Lösung; dieser Schritt wird jedoch in In der Welt sein durch aufwärts gerichtete arpeggio-ähnliche Figuren auf der Grundlage der harmonischen Reihe vorweggenommen, die zunächst als Einwürfe zu hören sind, aber schließlich zum dominierenden Merkmal des Stücks werden.

Die Techniken von Vom Nutzen des Lassens, insbesondere die der nicht zentrierten Tonalität und der wiederholten Dauern, tauchen auch in Sternwanderung auf, dem Zyklus von Stücken, die Zimmermann zeitgleich mit der Eckhart-Musik komponierte, sowie in dem Theaterstück Die Blinden (1985), in dem Zimmermann versucht, dramatische Entsprechungen für diese Techniken zu finden. Die Blinden basiert auf einem Theaterstück von Maurice Maeterlinck und wird von Zimmermann als ´statisches Drama´ beschrieben. Etwa eine Stunde lang besetzen zwölf Sänger eine fast dunkle Bühne, ihre Bewegungen ´am Rande der Unbeweglichkeit´. Zimmermann hat sich sowohl in der Partitur, als auch bei der Vorbereitung der ersten Aufführungen in Gelsenkirchen energisch gegen jeden Regieversuch gewehrt, psychologische Beweggründe für die Handlungen dieser zwölf blinden Figuren zu liefern oder Bühnenbilder zu schaffen, die sie in irgendeiner Weise definieren oder ihre Beziehung zu drei unsichtbaren, priesterähnlichen Gestalten ´erklären´ könnten, deren Anwesenheit, wie Zimmermann anweist, ´metaphorisch´ und nicht real sein soll.

Dieses obskure Tableau wird musikalisch durch eine Gesangsbesetzung verstärkt, die zum tiefen Ende des Spektrums tendiert: Die zwölf Stimmen sind ein Bass, fünf Baritone, ein Alt, drei Mezzo-Soprane und zwei Soprane, und es überwiegen mittlere bis tiefe Lagen. Dasselbe gilt für das Orchester, das aus drei Kontrabässen, zwei Bassflöten, Kontrabassklarinette, Horn, Posaune und Tuba besteht. Die Reaktionen auf die Gelsenkirchener Aufführungen waren im Allgemeinen ungünstig. Eie Zimmermann in seiner Einleitung zur Partitur von Die Blinden feststellte, entsprach die Art der „Abstraktion und Askese“ der Bühnendarstellung, die er sich vorgestellt hatte, nicht der „gegenwärtigen Regiepraxis der opulenten, bildhaften Inszenierung“, die unsere markt-orientierte Zeit bevorzugt.

Anschließend vollendete Zimmermann ein weiteres Bühnenwerk, Über die Dörfer (1988), für das er mit Peter Handke zusammenarbeitete, einem der einflussreichsten Persönlichkeiten der Deutschen Literatur und ein Schriftsteller, dessen Ideen über die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt (der Titel des Vorspiels des neuen Werks lautet Langsame Heimkehr) denen ähneln, die Zimmermann in Lokale Musik formulierte. Handkes Schriften flossen auch in Zimmermanns Arbeit am Zyklus Sternwanderung ein, und einigen der Partituren der Sternwanderung sind Zitate von Handke vorangestellt. Wie immer stieß das daraus resultierende Werk auf gemischte Reaktionen. Zimmermanns Musik mag sich einfacher Mittel bedienen, aber sie fordert ihr Publikum ständig heraus, da ihr Komponist einen Weg beschreitet, der ebenso sehr eine spirituelle Suche wie eine musikalische Karriere ist.

2 John Cage: Silence, Middletown, Conneticut 1963, S. 39.

3 Walter Zimmermann: Insel Musik, Köln 1981, S. 94.

4 John Cage, a.a.O., S. xi.

5 John Cage: For the Birds, London 1981, S. 228.

6 John Cage: M, London 1973, S. 24.

7 Calvin Tomkins: Ahead of the game, London 1968, S. 103.

© CHRISTOPHER FOX, 1986


Monika Fürst-Heidtmann

Reflektierte Eigenständigkeit

Der Pianist, Musikschriftsteller und -forscher Herbert Henck

„Ich sehe mich eher als Interpret einer Fülle von Stilen. Und ich habe das Recht, auch scheinbar gegensätzliche Stücke zu lieben und mich nicht festzulegen – etwa auf die Zweite Wiener Schule und deren Nachfolger. Aber wenn ich Musik aufnehme, kann man eigentlich davon ausgehen, dass sie mir als geistige, als kulturelle Leistung gefällt. Manchmal steht mehr das Intellektuelle im Vordergrund, manchmal ist das Experiment das Entscheidende, und manchmal ist es auch etwas ganz Klang-Sinnliches. An allen diesen Erfahrungen möchte ich teilhaben und mich nicht nur auf eine Art, Technik oder Denkweise beschränken müssen. Aber auf dem Anspruch, dass etwas Neues darin enthalten sein sollte, bestehe ich schon.“

An Adressaten oder Abnehmer denkt Herbert Henck dabei weniger: „Kunst ist primär Kommunikation mit sich selbst und etwas ganz Privates, Egoistisches. Für andere scheint sie mir erst in zweiter Linie da zu sein. Der Hörer ist für mich ohnehin kaum fassbar. Er ist viel zu abhängig von seiner individuellen Bildung und seiner Aufnahmebereitschaft und reagiert immer anders. Es ist grundsätzlich auch egal, ob sich das Werk vermarkten lässt, ob sich ein Verlag findet, ob Kritiker darüber schreiben, und so weiter. Das Wichtigste ist, dass man das, was man ausdrücken möchte, ausdrücken konnte, dass man erreicht, was man wollte, und dass man mit sich selbst zufrieden ist. Erst dann kann sich das auch auf andere übertragen.“

Solch radikaler Subjektivismus, der leicht in Beliebigkeit ausarten könnte, ist bei Herbert Henck freilich verantwortlich kontrolliert, reflektiert und an einem sich ständig erweiternden Wissens- und Erfahrungshorizont orientiert. Ebenso wenig wie auf ein bestimmtes Repertoire lassen sich seine Tätigkeiten auf die eines Pianisten reduzieren. Längst hat er eine zweite Karriere als Musikschriftsteller und -forscher aufgebaut, die von nicht minder weitgestreuten Interessen, von seiner Offenheit, intellektuellen Neugierde und Entdeckerlust zeugt. In seinem Schriftenkatalog finden sich zahlreiche Texte zur Neuen Musik, darunter informative und erhellende Einführungen in seine Schallplattenaufnahmen, denen zumeist gründliche Untersuchungen der Primär- und Sekundärquellen vorausgingen, und gelegentlich auch die Erstellung eines überhaupt erst aufführbaren bzw. authentischen Notentextes; ferner sorgfältig recherchierte Monografien, Bibliografien und Dokumentationen zu verschiedenen Komponisten sowie Aufsätze und Bücher über Themen und Probleme seines Metiers.

Wege zur Neuen Musik

Zum „Spezialisten für die Musik des 20. Jahrhunderts“ entwickelte sich der 1948 im hessischen Treysa als Sohn eines Nervenarztes geborene Herbert Henck jedoch erst nach und nach. Nachdem ihn seine Mutter schon früh – „auf spielerische Weise“ – an das Klavier herangeführt und sich schon bald die ungewöhnliche musikalische und pianistische Begabung des Sohnes gezeigt hatte, kam dieser 1959 in Mannheim aufs Konservatorium zu der Gieseking-Schülerin Doris Rothmund, die ihm immerhin schon Debussy und Ravel nahe brachte. Spätestens nachdem er 1965 den 1. Preis beim Klavierwettbewerb des Landes Baden- Württemberg gewonnen hatte, war Hencks Berufsziel entschieden: Nach dem Abitur am humanistischen Gymnasium begann er 1967 an der Stuttgarter Musikhochschule zu studieren. Sein Klavierlehrer war Arno Erfurth, sein Tonsatzlehrer Helmut Lachenmann, der in den Unterricht manchmal Musik von Stockhausen mitbrachte. Parallel dazu besuchte Henck Vorlesungen bei Erhard Karkoschka, „dessen Begeisterung für Neue Musik sich damals vielen von uns mitgeteilt hat“.

Auf Lachenmanns Empfehlung ging Herbert Henck 1970 an die Kölner Musikhochschule und zu Aloys Kontarsky, dem pianistischen Protagonisten des damaligen „Mekka für Neue Musik“, dessen Unterricht sich bald als außerordentlich fruchtbar erweisen sollte. „Kontarsky hat großen Einfluss auf mich gehabt. Er war ein moderner Mensch und jemand, der persönlichen Umgang mit den Komponisten hatte. Das hat seinen Unterricht durchdrungen.

Er brachte mich dann auch schnell in Kontakt mit Stockhausen. Und Stockhausen als Menschen zu erleben, ihn reden zu hören und nicht nur seine Musik von Tonbändern oder Schallplatten, das waren ganz wichtige Erfahrungen. Das waren jetzt wirklich Künstler, mit denen ich es zu tun hatte, schöpferische Menschen, die Ideale verfolgten, wofür man als junger Mensch ja sehr empfänglich ist.“

Ergebnisse dieser Begegnung waren die Mitwirkung an der 1973 für die Deutsche Grammophon eingespielten Uraufführung von Stockhausens Goldstaub (Aus den sieben Tagen). Hencks Interpretation des Klavierstücks X, für ihn „eines der Schlüsselerlebnisse Neuer Musik, wo durch Glissandi ganz neue Klavierfarben entwickelt werden“, trug ihm 1972 den Kranichsteiner Musikpreis ein. 1978 kam mit der Concord-Sonata von Charles Ives bei Wergo seine erste Solo-Schallplatte heraus – glänzender Start für eine mittlerweile auf über fünfzig angewachsene Reihe von Einspielungen.

Hencks manuelle Souveränität, seine aus gründlicher Vorbereitung und umfassenden Kenntnissen gewonnene interpretatorische Kompetenz, sein intellektuell wie emotional inspiriertes, klares und lebendiges Spiel ließen ihn bald zu einem der international gefragtesten Pianisten für die Musik des 20. Jahrhunderts werden. Viele Komponisten vertrauten ihm Uraufführungen an, darunter Walter Zimmermann (Beginner’s Mind), Wolfgang Rihm (Klavierstück Nr. 5), György Ligeti (1. und 2. Klavieretüde). „Natürlich gibt es einen gewissen Stolz, der erste gewesen zu sein, denn das hat etwas mit Originalität zu tun. Es ist immer ein Neubeginn für eine ästhetische Erfahrung, deren Ausgang unsicher ist und bei der infolgedessen oft auch ein größeres Risiko als bei weiteren Aufführungen enthalten ist. Aber ich reiße mich nicht darum.“

Die Einspielungen

In den achtziger Jahren mehrten sich die Schallplattenaufnahmen. Nach John Cages Music of Changes, für die er mehrere Auszeichnungen erhielt, spielte Henck – ebenfalls für Wergo – die nicht minder heiklen drei Klaviersonaten von Pierre Boulez ein, danach Stockhausens Klavierstücke I-XI. Von Ives nahm er auf drei Schallplatten „alles auf, was damals an Klaviermusik veröffentlicht war.“

Es folgte Bachs Wohltemperiertes Klavier, dessen zweiten Teil Henck in einer veränderten Reihenfolge spielte, gemäß seiner später in einem FAZ-Artikel anlässlich von Bachs 250. Todestag formulierten künstlerischen Devise: „Das Brechen mit Traditionen (…) erscheint mir als die einzige authentische Tradition in der Kunst.“

1984 begann Henck einen Zyklus von Improvisationen einzuspielen – für ihn die Möglichkeit, die untergeordnete Rolle des Interpreten, des „Erfinders aus zweiter Hand“, gegen die originäre Kreativität einzutauschen und „das eigene Empfinden und Denken unmittelbar in Tönen auszudrücken“. Auch dass er dabei sein ganzes brillantes pianistisches Potenzial entfalten konnte, macht die Improvisationen zu ebenso aufschlussreichen wie faszinierenden Dokumenten seiner Persönlichkeit. Darüber hinaus erwiesen sie sich als Experimentierfeld für neuartige, zum Teil mit Hilfe von Playback-Verfahren erzeugte Klang-, Zeit- und Raumerfahrungen, die Henck später unter anderem in seinem Buch Experimentelle Pianistik (Schott) beschrieb. Im Kapitel Klavierglissandi schildert er zudem seine Entdeckung von „echtchromatischen Glissandi“, die sich nach Entfernung des Tastendeckels auf stoffbespanntem Waagebalkenholz spielen lassen und die in seinen Improvisationen ebenfalls hörbar sind. Auch „klaviereigene Cluster“ hat er experimentell gefunden und sie in einem weiteren Buch (Klaviercluster, LIT-Verlag) beschrieben.

Die Texte

Welch ein ausgedehntes musikalisches Spektrum sich Henck schon relativ früh erarbeitete, kann man aus den zwischen 1980 und 1985 von ihm im eigenen Verlag produzierten und publizierten fünf Neuland-Jahrbüchern ersehen, in denen er die Musik der Gegenwart von Charles Ives bis hin zu Werken neuesten Datums vorstellt. Und bereits in dieser Sammlung von Essays, Texten und Materialzusammenstellungen ging es ihm darum, sich und den anderen 130 beteiligten internationalen Autoren „nicht eine Linie vorzugeben, sondern die Vielfalt widerzuspiegeln und auch all das zu Wort kommen zu lassen, was mich persönlich bewegte und zu dem man anderweitig kaum Zugang fand“.

Neue Horizonte

Um 1990 gab es eine Zäsur in Herbert Hencks Leben: Er zog aufs Land, in die Nähe von Bremen und machte sich weitgehend unabhängig vom Musikbetrieb – wenn er auch per Internet mit der ganzen musikalischen und übrigen Welt „vernetzt“ ist. „Den Kontakt zu Bremen hatte ich jedoch schon länger. Hans Otte hat mich immer wieder zu Aufnahmen und zur pro musica nova eingeladen. Cages Music of Changes etwa hätte ich nicht ohne Hans Otte gelernt und die drei Klaviersonaten von Boulez auch nicht.“

Dass Herbert Henck in den darauf folgenden Jahren mit einer bis dahin nicht gekannten „Auftragsflaute“ zu kämpfen hatte, hat freilich „seinen wesentlichen Grund in der Arbeitsweise eines Plattenproduzenten, der jahrelang nur Aufnahmen anfertigte, ohne sie zu veröffentlichen“. Bis heute sind noch ein gutes Dutzend unpubliziert. Damit waren aber nicht nur seine Aufnahmen und wertvolle Arbeit „eingefroren“, die lange Wartezeit dünnte auch Hencks Kontakte und Konzerteinladungen aus.

Nach entbehrungsreichen Jahren kamen erst ab 1995 wieder neue Aufnahmen heraus: darunter die in „edler Einfachheit“ gehaltene Musica Callada des Katalanen Federico Mompou oder die zwischen sperrigem Konstruktivismus und „gläserner Schönheit und Ruhe“ eigenartig fluktuierende Sonate pour Piano von Jean Barraqué, die Henck wieder den Diapason d’or und Rezensionen aus aller Welt einbrachte.

Eine Erkrankung im Jahre 2005 beendete Hencks pianistische Tätigkeit abrupt. Diese tragischen Umstände eröffneten aber eine Hinwendung zu seinen Forschungen, die eine beeindruckende Reihe von Aufsätzen zeitigten, gut dokumentiert auf seiner Homepage. Der letzte Aufsatz, bevor die progrediente Krankheit ihn auch das Konzipieren und Schreiben verunmöglichte, war die 2017 verfasste Studie über Gerta Ital Die erste Frau des Westens in einem Zen-buddhistischen Kloster Japans. http://homepage.herberthenck.de/Internettexte/Ital.pdf

(gekürzte Version des Textes, der ursprünglich in der Neuen Zeitschrift für Musik 2002/06, S. 30-33 erschienen ist. Dank an Monika Fürst-Heidtmann für die Abdruckerlaubnis der revidierten Fassung)